Einer der sogenannten Widersprüche, mit denen wir konfrontiert werden, betrifft den Widerspruch zwischen den Evangelien des Markus und des Johannes hinsichtlich des Zeitpunkts der Kreuzigung  Jesu. Markus 15,25 stellt fest: »Es war um die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten«, während wir in Johannes 19,14 lesen: »Es war am Rüsttag des Passahfestes, ungefähr um die sechste Stunde. Pilatus sagte zu den Juden: Das ist euer König! «
Dies stellt in der Tat eine Schwierigkeit dar, da Jesus laut Markus zur dritten Stunde nach jüdischer Zeitrechnung gekreuzigt wurde, das entspricht neun Uhr morgens, während Johannes ihn um die sechste Stunde, oder Mittag, vor Pilatus stehen lässt. Viele sagen, dieser Widerspruch sei unmöglich zu beheben, während andere behaupten, der Unterschied zwischen beiden sei das Ergebnis eines frühen Abschreibfehlers. Keine dieser beiden Ansichten ist einleuchtend oder annehmbar.

Es gibt zwei mögliche Lösungen, die ausreichendes Gewicht für sich haben. Eine Lösung beruht auf dem Wort »ungefähr« in der Zeitaussage des Johannes. Er sagt, dass es nicht genau die sechste Stunde war, sondern ungefähr diese Zeit.

Außerdem zwingt uns der Bericht des Markus nicht zu glauben, es sei genau neun Uhr vormittags gewesen, als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde. Dies wird deutlich, wenn man die Art versteht, in der das Neue Testament die Zeit berechnet.

Die Nacht war in vier Wachen zu je drei Stunden eingeteilt (vgl. Mark. 13,35), und der Tag war auf ähnliche Weise in Perioden unterteilt. Angesichts dieser Tatsache können wir uns vorstellen, dass die Aussage des Markus über die ›dritte Stunde‹ einfach bedeutete, dass Jesus irgendwann während der dritten Stunde (zwischen neun Uhr und Mittag) gekreuzigt wurde, während die Aussage des Johannes, der Prozess habe ungefähr mittags geendet, vor Mittag bedeuten kann.

Wenn also die Kreuzigung zwischen neun Uhr und Mittag stattfand, könnte Markus sie der früheren Periode (9 Uhr) und Johannes der späteren Periode (Mittag) zugewiesen haben, ohne dass es einen Widerspruch gibt.

»Wenn die Kreuzigung in der Mitte zwischen neun und zwölf Uhr stattfand, dann war es ganz natürlich, dass der eine Beobachter sie der früheren, der andere der späteren Stunde zuschrieb.

Der Stand der Sonne am Himmel war der Zeitanzeiger der damaligen Zeit; so war es zwar leicht festzustellen, ob es vor oder nach Mittag war oder ob die Sonne vor oder nach der Mitte zwischen Zenit und Horizont stand, feinere Zeitunterschiede konnten aber nicht ohne Hilfe einer Sonnenuhr festgestellt werden, die aber nicht überall zur Hand war« (The Expositor’s Greek New Testament, Kommentar zu Johannes 19,14).

Eine weitere Möglichkeit ist, dass Johannes eine andere Methode der Zeitrechnung verwendet als Markus. Wir wissen durch Plutarch, Plinius, Aulus Gellius und Macrobius mit Sicherheit, dass die Römer den zivilen Tag von Mitternacht bis Mitternacht rechneten, genau wie wir heute. So wäre die »sechste Stunde« des Johannes sechs Uhr am Morgen. Damit wäre sechs Uhr morgens die Zeit des letzten Verhöres Jesu und seiner Verurteilung, womit ausreichend Zeit für die Ereignisse bis zur Kreuzigung bleiben, die nach Markus um neun Uhr morgens oder später stattfand.

Es gibt gute Beweise dafür, dass Johannes diese Art der Zeitrechnung verwendet hat. In der Schrift ist es nicht ungewöhnlich, dass verschiedene Autoren unterschiedliche Methoden der Zeitmessung und der Zeitrechnung benutzen.

Im Alten Testament geben die Verfasser ihre wichtigen Daten oft nach dem Kalendersystem des Landes an, in dem sie zurzeit leben. Zum Beispiel war in Jeremia 25,1 und 46,2 nach palästinischer Rechnung und in Daniel 1,1 nach babylonischer Rechnung dasselbe Jahr.

Ein Beispiel aus dem Neuen Testament bietet Johannes 20,19. Der Abend des Tages, an dem Jesus von den Toten auferstand, wird als Teil desselben Tages betrachtet. Offensichtlich rechnet Johannes nicht nach jüdischer Zeit. Nach jüdischer Zeitrechnung wäre der fragliche Abend Teil des Montags – für die Juden der erste Tag der Woche, da der jüdische Tag mit Sonnenuntergang begann.

Dieser mögliche Faktor zeigt, zusammen mit dem vor-her Erwähnten, dass es durchaus nicht unmöglich ist, die Schwierigkeit dieser beiden Abschnitte zu lösen, und dass es für diese Schwierigkeit eine vernünftige Erklärung gibt.

Aus „Das kann ich nicht glauben! Antworten auf skeptische Fragen“ von Josh McDowell. Christliche Literatur-Verbreitung (CLV), 33661 Bielefeld. Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlages.